Kleingruppen
Kleine Gruppen und Gottes Prinzip der Gemeinschaft
Von Andreas Pfeifer
Wer mit offenen Augen die Bibel liest, entdeckt nicht nur, dass einer der zentralen Leitgedanken der biblischen Botschaft das Thema der Gemeinschaft ist, sondern wird auch feststellen, welchen hohen Stellenwert die kleine Gruppe beim Ausleben biblischer Gemeinschaft hat.
Ein biblisches Prinzip
Schon in der Schöpfung wird deutlich, dass der Mensch zur Gemeinschaft mit Gott und miteinander geschaffen wurde (1.Mose 1,26-28; 1.Mose 2,24). Dementsprechend spielt die Familie als Basiseinheit der Gemeinschaft eine zentrale Rolle (5.Mose 6,6-7). Auf den Rat von Jitro, des Schwiegervaters von Mose, wurde das Volk Israel nach einem System von kleinen Gruppen organisiert, bei dem jede Leitungsperson nur für eine kleine, überschaubare Gruppe von Menschen zuständig war (2. Mose 18,13–27).
Jesus baute das Fundament seiner Gemeinde auf einer kleinen Gruppe auf. Er lebte mit seinen zwölf Jüngern Gemeinschaft und teilte das Leben mit ihnen (Markus 3,13-15). Die Apostel, die später die Säulen der Gemeinde Jesu bildeten, wurden im Kontext der Gemeinschaft mit Jesus und der Gemeinschaft in einer kleinen Gruppe ausgebildet. Dass Jesus genau diese Art des Lebens und der Ausbildung wählte, war sicher kein Zufall.
So wurden kleine Gruppen die Basis der ersten christlichen Gemeinden. Apostelgeschichte 2,42–47 beschreibt das Leben der Gemeinde in Jerusalem, das sich zum Großteil in kleinen Hausgruppen abspielte. Die Gesamtgemeinde einer Stadt bestand aus miteinander vernetzten Hausgemeinden (Römer 16, 3–5.10–11.14–15; 1.Korinther 16,19; Kolosser 4,15; Philemon 2).
Das neutestamentliche Gemeindemodell
Das Leben der Gemeinde war geprägt von der Botschaft: “Jesus lebt! Wenn wir miteinander Gemeinschaft pflegen, ist er ganz real bei uns; er wirkt durch seinen Geist an uns, in uns und durch uns.” So ist es leicht nachvollziehbar, dass die ersten Christen jede Gelegenheit nutzten, um Gemeinschaft zu pflegen. Paulus beschreibt die Gemeinde als Körper von Christus (1. Korinther 12,12–13). Er zeigt auf, dass Gläubige vom Heiligen Geist eine oder mehrere Gaben bekommen, durch die Gott wirken möchte (V. 7). Erst das Zusammenspiel der unterschiedlichen Gaben lässt die Gemeinde wie einen lebendigen Organismus funktionieren (V. 14–20).
Dieses Bild wurde zur Grundlage für das Leben und die (gottesdienstlichen) Zusammenkünfte der Gemeinde. Deshalb schreibt Paulus: „Was folgt daraus für euch, Brüder und Schwestern? Wenn ihr zum Gottesdienst zusammenkommt, kann jeder und jede etwas dazu beitragen: ein Lied vorsingen oder eine Lehre vortragen oder eine Offenbarung weitergeben oder in unbekannten Sprachen reden oder die Deutung dazu geben. Aber alles muss dem Aufbau der Gemeinde dienen.“ (1. Korinther 14,26 GNB)
Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die über 50 neutestamentlichen Textstellen, in denen der Begriff „einander“ vorkommt. „Liebt einander“ (Johannes 13,34), „dient einander“ (Galater5,13), „einer trage des anderen Last“ (Galater 6,2), „tröstet einander“ (1.Thessalonicher 5,11), uvm. Diese Textstellen machen deutlich, was gemeint ist, wenn die Bibel von Gemeinschaft spricht. Gemeinschaft dieser Art gelingt am leichtesten in kleinen Gruppen.
Das neutestamentliche Gemeindemodell hat drei wesentliche Merkmale: Es ist christuszentriert, gemeinschaftsorientiert und gabenorientiert. Wenn man sich dieses neutestamentliche Gemeindemodell vor Augen hält, wird deutlich, warum sich das Leben der frühen Gemeinde in kleinen Hausgruppen abspielte. Schon in einer relativ kleinen Gemeinde von beispielsweise 30 Personen ist es kaum möglich, dass jeder etwas zum Gottesdienst beiträgt, so wie Paulus es beschrieb; in noch größeren Gemeinden, mit 60, 80 oder mehr Personen, wird es unmöglich.
Das konstantinische Gemeindemodell
Wenn wir unsere heutige Gemeindepraxis mit dem neutestamentlichen Gemeindemodell vergleichen, stellt sich die Frage, warum ein Lebensstil der Gemeinschaft, die Orientierung an den geistlichen Gaben und das Teilen des Lebens in kleinen Gruppen heute nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ein Grund sind bestimmte Entwicklungen in der Kirchengeschichte, die unsere Gemeindepraxis oftmals sehr viel mehr prägen, als uns bewusst ist.
In den ersten drei Jahrhunderten gab es keine speziellen Kirchengebäude; Hausgemeinden waren die Regel. Dies hatte auch damit zu tun, dass die Gemeinde bis zum Jahr 313 n. Chr. immer wieder unter Verfolgung zu leiden hatte. Dadurch war die Gemeinde genötigt, näher am biblischen Gemeindemodell zu bleiben.
Als die Verfolgung im Jahr 313 mit dem Toleranzedikt von Mailand beendet und das Christentum unter Kaiser Konstantin gefördert wurde, hatten die Christen auf einmal das, wonach sie sich Jahrhunderte lang gesehnt hatten: Freiheit. Nun konnten sie sogar großartige Kathedralen errichten und ungehindert riesige Gottesdienstversammlungen abhalten. Naturgemäß ging dadurch das gemeinschaftliche Leben in den kleinen Hausgruppen zurück und wurde zeitweise sogar verboten.
Auf einmal strömten viele Menschen in die Kirchen, weil es „modern“ war, Christ zu sein. Um chaotische Zustände zu vermeiden, entwickelte sich das, was man das „konstantinische Gemeindemodell“ nennen könnte. Die Gläubigen wurden von der aktiven Beteiligung am Gottesdienst ausgeschlossen. Man setzte (oder stellte) sie hintereinander und ihre Aufgabe bestand darin, dem Priester zuzuhören, der Liturgie zu folgen, mitzusingen und ihr Geldopfer zu geben. Die Geistlichen entwickelten sich immer stärker zum Dreh- und Angelpunkt der Kirche. Dies gipfelte schließlich in der Auffassung, die Gläubigen hätten selbst keinen direkten Zugang zu Gott, sondern seien auf den Priester als Mittler angewiesen. Das konstantinische Gemeindemodell ist also gebäudezentriert sowie pastoren- und veranstaltungsorientiert. Durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch bis zum heutigen Tag wurden und werden die christlichen Kirchen, auch unsere Freikirche, vom konstantinischen Gemeindemodell geprägt
Wirklich tragisch ist, dass es Adventisten in der westlichen Welt bisher weitgehend versäumt haben, das biblische Prinzip der Gemeinschaft in kleinen Gruppen wieder umfassend zu etablieren, während andere Freikirchen, auch in Deutschland, sehr erfolgreich die Früchte dieser gelebten Prinzipien ernten.[1]
Die frühe Adventbewegung
Im Gegensatz zu vielen heutigen Adventgemeinden war das Glaubens- und Gemeindeleben der frühen Adventbewegung sehr stark von Gemeinschaft in kleinen Gruppen geprägt.[2] Das wichtigste Element des Gemeindelebens war die so genannte Gemeinschaftsversammlung (englisch „social meeting“). Das war ein stark gemeinschaftsorientiertes Treffen, meist in kleinen Gruppen, bei dem die Gläubigen von ihren Sorgen, Anfechtungen, Freuden und Erfahrungen berichteten und miteinander beteten. Der Gottesdienst bestand häufig aus einem Bibelstudium (Sabbatschule) und einer Gemeinschaftsversammlung. Eine Predigt war eher die Ausnahme! So beschreibt Ellen White den Gottesdienst einer kleinen Gemeinde, zu der ihr Sohn Edson gehörte, folgendermaßen:
„Es sind vier Familien, die sich regelmäßig versammeln, insgesamt zwölf Personen. Wenn Edson zuhause ist, leitet er die Sabbatschule. Nach der Sabbatschule gibt es entweder eine Schriftlesung oder eine Gebets- und Gemeinschaftsversammlung. Das ist so, wie es sein sollte.“[3]
In den Schriften von Ellen White finden sich dementsprechend unzählige Aussagen über die zentrale Bedeutung von kleinen Gruppen:
„Die Gründung kleiner Gruppen als Grundlage christlicher Tätigkeit ist mir von dem gezeigt worden, der nicht irren kann. Ist die Gemeinde größer, dann können die Glieder kleine Gruppen bilden und sich sowohl für die Gemeindeglieder als auch für Ungläubige einsetzen.“[4]
Gemeinschaft in kleinen Gruppen ist ein grundlegendes Element gesunder Gemeinden. Kleine Gruppen mit persönlichem Austausch, Offenheit und gegenseitige Unterstützung, sind keine Methode, die man aus einem Arsenal verschiedener Ansätze passend zur eigenen Gemeindesituation wählen kann. Gemeinschaft in kleinen Gruppen ist ein Prinzip, das Gott in unser Mensch- und Gemeindesein hineingelegt hat.
[1] Ein Beispiel ist der Bund Freier evangelischer Gemeinden (FeG), die in den letzten Jahrzehnten großes Wachstum erlebt haben. Freie evangelische Gemeinden legen großen Wert auf Kleingruppen.
[2] Siehe hierzu sehr ausführlich: Russell Burrill: Gemeinschaft wie Christus sie meint: Die Gemeindestruktur für das 21. Jahrhundert. Lüneburg: Advent-Verlag, 2006.
[3] „Notes of Travel Kansas City”, Adventist Review and Sabbath Herald, 14. Oktober 1884, zitiert bei Burrill S. 91.
[4] Ellen G. White, Schatzkammer der Zeugnisse III, S. 71. Dieses Zitat ist nur ein Beispiel von sehr vielen Aussagen zum Thema kleine Gruppe.